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Wenn Alpakas und Schafe Arien singen

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Sie ermöglichen die Flucht aus dem Alltag, wenigstens für ein paar Minuten. Sie versetzen jeden, der sie sieht, ins Staunen, bringen zum Lachen oder wecken tiefe Emotionen. Straßenkünstler sind ein wichtiger Bestandteil einer lebendigen Stadt, die immer wieder an die Schönheit des Moments erinnern. 

Ein Mann mit vielen Gesichtern – Jordi Beltramo lebt für die Emotionen des Publikums.

Hektisches Treiben herrscht am Samstagvormittag im Zentrum von Meran. Geschäftsleute mit ihrem Telefon in der Hand schlängeln sich zwischen Familien, Menschen mit Einkaufstüten und Touristen durch. Plötzlich bildet sich in der Mitte der Lauben eine Menschentraube und es scheint, als würde in diesem Moment das Konzept von Raum und Zeit aufgehoben. Auf einem Sockel steht ein Mann in einem Anzug, starr wie eine Statue. Ein Kind geht zu ihm hin und wirft eine Münze in den Hut des Pantomimen, der sogleich beginnt, sich zu bewegen, und nach einigen Sekunden wieder regungslos in einer anderen Pose verharrt. Neugierde, Erwartung und Begeisterung sind in den Gesichtern der Zuschauer zu sehen. Der Pantomime Jordi Beltramo ist der wohl bekannteste Straßenkünstler der Kurstadt, der ebenso zum Stadtbild gehört wie das Kurhaus.

„Die Straße ist hart und erbarmungslos“, erzählt Jordi mit einem Lächeln, das aber dennoch die Ernsthaftigkeit dieser Aussage durchblicken lässt. „Es bleiben dir nur wenige Sekunden, in denen du die Fußgänger von dir überzeugen musst, damit sie stehenbleiben und im Idealfall sogar etwas Hutgeld einwerfen. Anders als im Theater, wo die Zuschauer bereits mit einer Absicht und einem gekauften Ticket kommen, muss man sich den Applaus auf der Straße jedes Mal aufs Neue verdienen.“ Dennoch hat die Liebe zum kalten Pflaster Jahrzehnte überdauert und dem 46-Jährigen eine internationale Karriere beschert.

Von der Rambla in Barcelona bis in den Iran

Im Alter von 18 Jahren machte sich Jordi von seiner Heimatstadt Cuneo im Piemont auf nach Barcelona – per Anhalter. „Meine Eltern dachten, es wäre nur eine Phase“, erzählt Jordi und lacht. „Nach meinen Anfängen als ‚Busker‘ in Barcelona war ich einmal auf Formentera unterwegs, wo mich ein Regisseur ‚entdeckte‘ und mich während meiner Vorstellung filmte. Schon kam ich damit ins Fernsehen und das Interesse an mir wuchs von da an stetig.“ Früh war dem Tausendsassa klar, dass diese Form der Kunst nicht nur ein Hobby, sondern eine Berufung ist. Statue, Pantomime und Clown sind nur einige der Charaktere, die zum Straßenrepertoire gehören und mit denen er bereits Länder wie Russland, Kolumbien und den Iran bereist hat. Letztere Erfahrung zählt zu den wohl prägendsten seiner Karriere. „Als ich die Einladung vom iranischen Kulturministerium erhalten habe, war ich sehr verwundert, denn ich wusste nicht, dass es dort überhaupt so etwas wie Straßenkunst gibt.“ Eine Woche lang war Jordi in der nordwestlichen Provinz Kurdistan unterwegs – eine kurze, aber intensive Zeit voller Emotionen. „Mein persönliches Highlight war der letzte Tag, an dem ich auf einem enormen Platz ein riesiges Publikum vor mir hatte. Eine Stunde lang, von der ersten zur letzten Minute, haben die Menschen lauthals gelacht und mitgespielt. Am Ende wurde ich sogar mit Personenschutz zum Taxi gebracht, da alle Autogramme haben und Bilder machen wollten.“

Erlebnisse wie diese sind ein großes Kontrastprogramm zu seiner Wahlheimat Meran, wo die Kunst der Straße in eher bescheidenem Ausmaß gewürdigt wird. Die Menschen sind zu gestresst, es bleibt kaum Zeit, um sich für ein paar Minuten der Unterhaltung zu widmen. Auch der aktive Dialog zwischen Künstlern, der Stadt und den Geschäftsleuten ist nicht immer einfach, aber dennoch ein wichtiger Punkt, den es zu berücksichtigen gilt. „Der Grat ist sehr schmal“, erzählt Jordi, der unter anderem auch künstlerischer Leiter des jährlichen Straßenkünstlerevents ‚Asfaltart‘ ist. „Einerseits möchte man eine lebendige Stadt, andererseits wird alles sehr stark reglementiert, damit es nicht zu lebendig wird. Es gibt strenge Vorschriften, an die man sich halten muss. Aus dem freien Spiel wird somit ein geplanter Auftritt mit viel Bürokratie – ein sehr großer Einschnitt für Menschen, die von ihrer Spontanität und Kreativität leben.“

Jede Handpuppe hat ihre eigene Geschichte

„Wenn bei schönem Wetter viele Menschen auf der Straße sind, kann man sich nicht einfach auf die ausgewiesenen Plätze stellen und singen“, erzählt auch Daniele Tommasi, Theaterschauspieler und Bauchredner, oder besser gesagt Bauchsänger. Gemeinsam mit seiner Handpuppe, Alpaka Elvin, bucht er regelmäßig die unter Straßenkünstlern begehrten Stellen der Stadt und präsentiert lyrische Klassiker wie unter anderem Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“. Eine Musikrichtung, die vielen Menschen – insbesondere Jugendlichen – heutzutage fern ist. Der Weg von der Theaterbühne auf die Straße ist ein eher ungewöhnlicher Werdegang. Doch genau das Unbekannte ist es, was den Reiz dieser Kunstform ausmacht, die für Daniele alles andere als seine Komfortzone ist. „Ohne Elvin würde es mir sehr schwerfallen, mit dem Singen anzufangen. Das ist aber das Interessante oder vielleicht sogar Paradoxe: Man will sich präsentieren, aber gleichzeitig auch gerne hinter einer kleinen Handpuppe verstecken. Elvin hat seinen eigenen Charakter und versteckte Eigenschaften von mir, die während der Vorstellung zum Leben erwachen. Es ist so, als würde eine größere Energie Überhand gewinnen und Elvin gemeinsam mit mir improvisieren.“ Auch Danieles Partnerin, Naimana Casanova, lebt ihre versteckten Anteile über ihre Handpuppe Belinda, ein kleines süßes Schaf, das sich manchmal auch gerne in den Mittelpunkt stellt. „Sie ist eine kleine Primadonna“, erzählt Naimana und lacht. „Sie scherzt gerne, fällt mir mal ins Wort und liebt es, das Publikum zu verblüffen.“

Daniele und Naimana verbindet eine Liebe, die weit über die Handpuppen hinausgeht.

Was das Bauchsingen zu einer wahren Kunstform macht, sind neben den gesangstechnischen Fähigkeiten auch die Handbewegungen und die Kommunikation mit der Puppe selbst. „Die Mimik der Puppe ist ein sehr wichtiger Teil, denn sie soll einerseits leicht übertrieben und andererseits absolut kohärent mit den Tönen sein, die der Puppenspieler von sich gibt“, erklärt Daniele. „Zudem ist neben dem Eigenleben der Puppe auch die Reaktion des Spielers von Bedeutung“, ergänzt Naimana. „Denn man spricht für die Puppe und tut dabei so, als würde man ihr aktiv zuhören und darauf reagieren. Da sind unzählige Gedankengänge, Mimik und Gestik, die in einem Moment aufeinandertreffen. Es ist wirklich eine spezielle Form der Kunst.“

Von den Straßen Merans in die großen Talentshows

Daniele und Naimana sind ein Künstlerpaar, das sich nicht nur privat, sondern auch künstlerisch ergänzt. Während Daniele als professioneller Bauchredner Naimana wertvolle Tipps für die perfekte Performance verrät, unterstützt sie ihn wiederum mit ihrer langjährigen Gesangsausbildung. Gemeinsam erobern sie so nicht nur die Herzen der Menschen auf der Straße, sondern auch die großen Bühnen Europas. Zuletzt waren die beiden bei bekannten TV-Formaten wie „Das Supertalent“ zu sehen, wo sie auch die Jurys von sich überzeugen konnten. Obwohl auch die großen Bühnen ihren Reiz haben, sind es dennoch immer wieder die einfachen Begegnungen auf der Straße, die von größter Bedeutung sind. 

Im Finale von „Das Supertalent“ schafften es Daniele und Naimana auf Platz vier.

„Was mich am meisten berührt“, erzählt Naimana mit leuchtenden Augen, „das ist der Moment, in dem es mir gelingt, mit den Zuschauern eine kurze und intensive Verbindung zu schaffen. Die Musik ist hierbei ein verbindendes Element, das Emotionen in Bewegung bringt. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer älteren Dame nur wenige Tage nach dem Tod meiner geliebten Großmutter. Die Dame erinnerte mich sehr stark an sie. Als sie nach meiner Vorstellung mit Tränen in den Augen zu mir kam, erzählte sie, dass ich sie an ihre Tochter erinnerte, die etwa in meinem Alter war und die sie viel zu früh verloren hatte. Das war ein sehr wertvoller emotionaler Moment für uns beide, den die Straßenkunst möglich gemacht hat.“

Kunst auf dem Asphalt

Auch Jordi Beltramo lebt für diese einzigartigen Momente auf der Straße. „Wenn ein Mensch aufgrund deines Auftritts von ganzem Herzen lacht, zu Tränen gerührt ist oder eine Menschenmasse im Kollektiv jubelnd eine gemeinsame Energie erzeugt, ist das ein unbeschreibliches Gefühl.“ Mit der Entstehung von Asfaltart ging vor 18 Jahren ein kleiner Traum in Erfüllung, so vielen Straßenkünstlern wie möglich ein eigenes Event zu bieten. An drei Tagen steht Meran ganz im Zeichen der Akrobatik, Musik, Clownerie und Zauberkunst. Was als kleines Fest für Zirkusfreunde begann, entwickelte sich schon bald zu einem der bedeutendsten Events dieser Art in Italien. „Es ist eine große Chance für Künstler, sich einem großen Publikum zu zeigen. Positiver Nebeneffekt ist, dass sich mittlerweile auch ein ganzer Tourismus rund um Asfaltart entwickelt hat“, erzählt Jordi, der mit seinem Team mittlerweile jährlich rund 500 Bewerbungen aus dem In- und Ausland bearbeitet. „Und das Beste: Es hat wesentlich dazu beigetragen, dass die Straßenkunst an Beliebtheit dazugewonnen hat und viele aufstrebende Talente motiviert, ihren Traum zu verwirklichen.“

Anfang Juni steht Meran im Zeichen der Straßenkunst mit Artisten aus aller Welt.
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