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Der mit dem Webstuhl tanzt

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Wenn er webt, spricht er nicht. Aber dann, wenn er das Wort ergreift, bricht die Weberkrankheit durch: das Erzählen, weil es viel zu sagen gibt.

Weben ist Rhythmus, Bewegung. Das kommt ihm entgegen. Herman Kühebacher ist ein ruhiger Rhythmiker. Wenn seine großen, breiten Füße die sechs Pedale des Schaftwebstuhles treten, dann weiß er, was er tut. Dann beginnt ein Tanz mit offenem Ende. Manchmal fließend, manchmal stolpernd, aber immer weiß Herman beim Weben: Ich bin es, der hier die Regie führt. „Das Leben ist eine Lotterie. Hier in der Werkstatt ist alles überblickbar. Ich weiß, was geschieht und warum es geschieht.“ Bis ins 19. Jahrhundert war der Weber ein angesehener und verbreiteter Beruf. Heute ist Herman Kühebacher ein Exot. Von sich selbst sagt er: „Ich bin ein unglaublicher Chaot, aber beim Weben hat Ordnung absolute Priorität.“ Dazu gehört auch das aufrechte Sitzen, „sonst sind die Bandscheiben schnell kaputt“. Er philosophiert nicht, schweift nicht ab. Das, wovon er gleich zu Beginn erzählt, ist sein Leben. Das Schicksal, wie er es nennt, das „manchmal die seltsamsten Überraschungen parat hält“. Vor einigen Jahren ist seine Frau Evi an Brustkrebs gestorben. Seitdem ist die Arbeit das, was den Tag zusammenhält.
Im Zentrum von Niederdorf liegt seine Werkstatt. Ein kleiner Verkaufsraum, getrennt durch große Fensterscheiben die zwei dahinterliegenden Webstühle. In der Luft ein scharfer Geruch – Kampfer, erklärt Hermann: „Ich verteile Kampferbrocken in der Werkstatt wegen der Motten und den Insekten.“ Wie jeden Tag ist er auch heute mit dem Rad von Welsberg, wo er wohnt, die knappen sieben Kilometer nach Niederdorf geradelt. Weiße, luftige Hose, graues Shirt. Sein Arbeitstag in der Werkstatt beginnt spätestens um halb acht.

Herman Kühebacher verwebt größtenteils Leinen oder Wolle

Weben ist Kraft, Weben ist Geduld
Herman Kühebacher wächst als zweites von fünf Kindern in Innichen auf. Die Mutter Lehrerin, der Vater Sprachwissenschaftler. Bekam er da seine Findigkeit mit? Sein Geschick, die Umsicht, den Gemeinschaftssinn, versetzt mit einer gesunden Portion Egoismus. „Du musst Geduld haben. Manche sagen ja, weben, das sei wie meditieren.“ Da lacht er. Seit 23 Jahren hält der braungebrannte Steuermann das Webschiff in der Hand, kettet die Fäden auf, verkreuzt sie und verzettelt sich manchmal. Auch das gehört dazu, das Sich-Verzetteln. „Weben ist oft stumpfsinnig und monoton, es darf dir nichts ausmachen, über längere Zeit das Gleiche zu tun.“ Aber meditieren? Der 56-Jährige spricht lieber von Zufriedenheit, und auch davon, dass es manchmal einfach nicht geht, in den Fluss der Arbeit einzutauchen. Dann aber, und das ist die Freiheit, die er am Weben mag, dann nimmt er seinen Dudelsack, dreht das Schild am Geschäft auf „Komme gleich“, schwingt sich aufs Rad und fährt zum Mooser Kirchl zum Musizieren. Er ist ein Tausendsassa. Ein Sänger, ein Dudelsackspieler, ein Flöter. Von Beginn an Mitglied der Folkgruppe „Titlá“. Als Autodidakt lernt er verschiedene Musikinstrumente, verweigert die Musikschule, geht seinen Weg. Er hat weder Führerschein noch Fernseher, sagt er von sich selbst und stellt sich immer wieder die Frage: In welcher Gesellschaft leben wir?

Bis ins 19. Jahrhundert war der Weber ein angesehener und verbreiteter Beruf. Heute ist Herman Kühebacher ein Exot

Der freie Arbeiter
Selbstbestimmt ist ein guter Begriff, um Herman zu beschreiben. Er weiß, wann es welche Bewegung braucht. Wenn er webt, ist es ein Dirigieren, ein Koordinieren von Fäden, Händen und Füßen. Konzentriert arbeitet Herman am großen, zwei Meter breiten Schaftwebstuhl. Fäden für 60 Meter Handtuch sind auf den Spulen aufgezogen. Das Hörspiel-Hören während der Arbeit hat er neu entdeckt, „das liebe ich“, schwärmt er. Weben ist für ihn „eine unverschämte Freiheit“– weil es die Zunft nicht mehr gibt. Weil der Weber aus Niederdorf keine Konkurrenz fürchten muss. „Das Weben, wie ich es betreibe, ist Handwerk im wahrsten Sinn des Wortes.“ Dass er etwas macht, was die Menschheitsgeschichte seit mehr als 2.000 Jahren begleitet, das macht ihn stolz. Das befriedet ihn. Ein einfaches System ist der Webstuhl, zusammengesetzt aus Holzteilen. Ersatzteile baut Herman sich gegebenenfalls selbst, er ist der Herr der Fäden. Mitarbeiter gibt es nicht, auf Computer will er verzichten, weil er Abhängigkeiten nicht mag. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er dieses Leben will. Genau so. Dass Weber schon immer als „Hungerfresser“ galten, schreckt Herman nicht ab. „So zu leben, ist purer Luxus für mich, auch wenn mein Wirtschaftsberater sagt, dass es mir rein wirtschaftlich gesehen nicht gut gehen kann.“ Es braucht keinen Grund, nur eine Entscheidung. Es muss der Rhythmus stimmen, der Takt. Die Balance zwischen Arbeit und Genuss. Der Tanz, die Regie, die Pause.

In freundlicher Zusammenarbeit mit der Storytelling-Plattform „Was uns bewegt“ von IDM Südtirol. Redakteure, Fotografen und Filmemacher sammeln und erzählen dort reale Geschichten von Menschen und Lebensmustern in Südtirol.
www.wasunsbewegt.com

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